GUT ERKLÄRT
Das Auge liest mit – wie die Schriftart das Lesetempo beeinflussen kann
Text ist Text. Schrift ist Schrift. So weit, so einfach. Doch einige Faktoren können das [...]
GUT ERKLÄRT
In meinem Regal steht ein mittlerweile vergilbter Suhrkamp-Band von Niklas Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität . Wendet man das Buch auf die Werbung an, kann man zu erstaunlichen Erkenntnissen gelangen. Systeme, sagt Luhmann, reduzieren die chaotische Weltkomplexität, indem sie eine Ordnungsleistung im Verhältnis zur ihrer Umwelt erbringen. Ihre Sinnstrukturen bilden eine höhere Ordnung mit weniger Möglichkeiten, an der sich unser Erleben und Handeln besser orientieren kann. Das gilt für alle Systeme, für das System Gesellschaft genauso wie für die Systeme Wirtschaft, Wissenschaft, Recht oder Politik.
Will man Systeme kritisch betrachten, kann man den Prozess der Komplexitätsreduktion gleichsam umkehren und über die interne Rationalität des Systems hinausfragen: Was ist der Preis der Reduktion? Welcher Art sind die geleugneten Möglichkeiten? Welche Defizite bringt die systemeigene Limitierung hervor? Mit Blick auf die Werbung öffnen solche Fragen eine Perspektive für andere, möglicherweise wirkungsvollere Strategien und Formate der Kommunikation.
Denn auch die werbliche Kommunikation ist ein System, d.h. ein bestimmtes Entscheidungsmodell mit einer bestimmten Merkmalsstruktur. Damit Werbung entsteht, wird Weltkontingenz auf unterschiedlichen Ebenen verarbeitet und umgeformt. Um einige Beispiele zu nennen: Bei der Ideenfindung kommen bestimmte Brainstorming-Techniken zum Einsatz. Für Fotos werden Bildinhalte inszeniert, auf spezielle Weise abgelichtet und das Ergebnis mit dafür entwickelter Software bearbeitet. Typografie wird von Schriftendesignern in komplexen Prozessen gestaltet. Und für Werbetexte wird die natürliche Sprache nach bestimmten Stilmustern und rhetorischen Figuren ästhetisiert. Systembildende Faktoren stecken noch im sozialen Habitus derer, die Werbung schaffen. Wie andere Systeme neigt auch die Werbung zur Musterbildung, und über solcherart verfestigte Strukturen fragt nach einiger Zeit naturgemäß niemand mehr hinaus.
Daran wird deutlich, weshalb Werbung bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Hervorbringungen in den Grenzen ihres Systems gefangen bleiben muss. Indem man ihre Systemleistung allerdings (partiell) außer Kraft setzt, erzeugt man einen Raum, in dem andere Lösungen entstehen können: Fotos, die improvisiert und unbearbeitet sind, und deren Charakter sich deshalb schon auf den ersten Blick von ihren High-End-Vorbildern unterscheidet. Typografie, die „von Hand“ auf Papier gemalt, an Wände geschrieben oder – Stefan Sagmeister lässt grüßen – auf die nackte Haut tätowiert wird. Oder Testimonials, die nicht „gespielt echt“ sind wie in der Fielmann-Werbung, sondern tatsächlich authentisch. Das Gedankenspiel lässt sich beliebig fortsetzen – bis hin zur Autobroschüre, die keine mehr ist, sondern das potenziellen Kunden vor die Tür gestellte Fahrzeug selbst.
Bahnbrechend neu ist dies alles nicht, wie ein Blick auf Street Art, Body-Painting oder andere Kunstformen zeigt. Dennoch kann die werbliche Kommunikation durch die skizzierte Vitalitätskur wieder unmittelbarer, relevanter, lebensnäher und damit wirkungsvoller werden. Sie müsste sich nur von den anonymen, entwirklichten und gefakten Welten abkehren.
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